Zeitzeugenbericht

Der folgende kurze Bericht entstammt einer Sonderbeilage der Braunschweiger Zeitung vom 13. Oktober 1984. Der Autor Eckhard Schimpf beschreibt hierin seine Erlebnisse als Sechsjähriger in der Bombennacht vom 15. Oktober 1944, nach der er mit vielen anderen zusammen aus dem Bunker Am Sack gerettet wurde.

Es war zunächst wie immer: Der Drahtfunk meldete Kampfverbände im Anflug. Sirenen-Alarm, hastende Schritte in völlig abgedunkelten Straßen. Befehlstöne “Handschuh-Röver, Licht aus!” Dann die Treppen hinunter in den Bunker Sack. Wir gingen immer in diesen Bunker. Ich war sechs Jahre alt.
In den Betonbunkern der Innenstadt war man sicher. Die meterdicken Decken hielten selbst Sprengbomben-Volltreffer aus. Stets saß man im gleichen Raum, auf der gleichen doppel­stöckigen Pritsche. Man kannte einander. “Bunker­bekanntschaften” nannte man das.
In dieser Nacht war dann doch plötzlich alles anders. Die Sirenen-Töne der Entwarnung blieben aus, obwohl die Bunkerwarte Weiß und Berkemeier behaupteten, die feindlichen Verbände seien längst wieder verschwunden. Es vergingen Stunden, und die eisernen Bunkertüren blieben immer noch zu. Die Menschen wurden unruhig.
Der als Luftschutzmann tätige Apotheker Rolf Wehr kam herein und flüsterte: “Man darf nicht raus. Vielleicht haben die Tommies Giftgas geworfen, und alle draußen sind tot.” Es wurde warm und stickig in den überfüllten Räumen. Die Gespräche verstummten, man konnte kaum noch atmen. Einige Frauen fielen in Ohnmacht.
Dann kamen – es war gegen sieben Uhr morgens – verrußte und verdreckte Feuerwehrmänner und SS-Leute in den Bunker am Sack. Man sei vom Feuer eingeschlossen, aber die Rettungs­mannschaften hätten nun eine Wassergasse bis zum Bürgerpark bilden können. Scheuerlappen wurden verteilt, in den Bunkergängen noch ins Wasser getaucht und dann über die Köpfe gezogen.
Die ersten Schritte aus dem eisernen Bunker-Tor waren wie eine Horror-Vision. Eine Glutwelle fegte uns ins Gesicht, als habe man in einen brennenden Ofen geschaut. Rundherum Feuer, beißender Qualm und ein Sturmgetöse, das jegliches Wort erstickte. Dann begann diszipliniert und gebückt die Flucht unter dem rieselnden Wasser der Feuerwehr­schläuche.
Hin und wieder schoben wir die nasse Gesichtsmaske zur Seite und sahen uns um. Auf dem Dach eines Hauses in der Neuen Straße stand eine Gestalt und schwenkte hilfesuchend die Arme. Die Hof-Apotheke brannte zwar nicht; mit Zangen wurden jedoch aus dem Dacherker die Stabbrand­bomben geschleudert, die nicht gezündet hatten. Ebenso im Lyzeum Kleine Burg. Vor der Burg und Schuhstraße waren bis auf kleine Brände unversehrt. Eine Feuerwand hingegen in Richtung Packhof, wo jetzt die Welfen­passage ist. Auch Langerfeld brannte.
Zwischen den Kaufhäusern Witting und Stöber (später Hertie-Einrichtungshaus) schlugen die Flammen über die Straße. Ein Blick in die Schützenstraße: Eine Frau mit zwei Kindern blieb im flüssigen Asphalt stecken. Sie schrien, ließen die Schuhe zurück. Taumelten weiter, blieben wieder stecken. Fielen um. Niemanden kümmerte es.
Der Lebensmittelhändler Paul Kosny rannte vorbei. Er durfte nicht in den Bunker, weil er gebürtiger Pole war. In dieser Nacht rettete er zahlreiche Eingeschlossene und Verschüttete am Meinhardshof und in der Reichsstraße.
Häuser brachen zusammen. Der Funkensturm am Kohlmarkt war dicht, wie ein Schneetreiben. Die Turm-Kuppeln der Martini-Kirche sahen aus wie glühende Bälle.
Endlich war der Bürgerpark erreicht. Tausende waren hier. Die Teiche waren von den Pumpen der Feuerwehr leergesogen. Auch der Wasserstand der Oker war schon extrem niedrig. Rote-Kreuz- Fahrzeuge brausten hin und her. Gegen Mittag kamen Wehrmachts-Lastwagen mit Essen. Brot und Suppe waren schnell alle. Nur geeistes Apfelmus gab es noch in rauhen Mengen.
Es wurde nicht hell an diesem Tag, ein gewaltiger Rauchpilz verdunkelte die Sonne. Auf dem Bohlweg lagen nebeneinander aufgereiht etwa 60 verkohlte Leichen, merkwürdig klein.